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Vinschgau: Rabenmutter oder Heimchen am Herd?

10. Juli 2008

Vinschgerwind-Titel 14-08

Kitas sind auch im Vinschgau im Kommen. Derzeit gibt es im Vinschgau Kindertagesstätten (Kitas) in Latsch, in Naturns und seit kurzem auch in Göflan. Der Bedarf ist groß – auf dem Papier. Tatsächlich in Anspruch genommen wird das Angebot noch wenig. Die Vinschger müssen sich erst an die Kitas gewöhnen, was aufgrund vieler Vorbehalte nicht einfach erscheint.

von Brigitte Maria Pircher

Sind Eltern Rabeneltern, wenn sie ihr 1-jähriges Kind in fremde Hände geben und wieder zur Arbeit gehen? Trägt das Kind durch die frühe Trennung von der Bezugsperson seelische Verletzungen davon, die nicht wieder gut zu machen sind und u. a. ein erhöhtes Suchtrisiko mit sich bringen? „Der Spiegel“ Nr. 9 vom 25.02.2008 behauptet, „nirgends wird über Kinderkrippen so ideologisch gestritten wie in Deutschland“ – und irrt. Die Diskussion im kleinen Südtirol und im noch kleineren Vinschgau ist ebenso heftig und emotionsgeladen. Erbittert wird verurteilt und beschuldigt, gekämpft für ein Kind, dessen Bedürfnisse erfüllt werden müssen, um zum mündigen Teil der Gesellschaft zu werden.

„Glaubenskrieg“

Ein regelrechter Glaubenskrieg wird ausgefochten, von Betroffenen und Nichtbetroffenen gleichermaßen. Kindertagesstätten, egal ob von der Gemeinde oder von Privaten geführt, werden hierzulande für viele zum roten Tuch, zur Zielscheibe, wenn es darum geht, die Probleme der modernen Gesellschaft zu analysieren und ihre Ursachen ausfindig zu machen. Dabei verstehen sich die von den Tagesmüttergenossenschaften geführten Kindertagesstätten, kurz Kitas genannt, als sozialpädagogische Einrichtung, die Eltern in ihrer Erziehungsarbeit unterstützen.

Eltern unterstützen

Diese Unterstützung bezieht sich in erster Linie auf die Entlastung der Eltern, wobei das Kind von pädagogisch geschulten Kräften betreut wird; gleichzeitig kann die Bezugsperson in ihrer Erziehungsarbeit unterstützt werden. Im Vinschgau öffnete die erste Kitas im Jahr 2005 in Latsch, die zweite in Naturns und die dritte in Schlanders. Der Anfang fiel schwer, das Angebot in Latsch wurde nicht gleich angenommen, Vorbehalte machten sich breit: Was passiert, wenn „Fremde“ die Erziehungsarbeit übernehmen? Wenn Oma und Opa nicht mehr eingespannt werden? Gegenfrage: Was soll jemand tun, der keine Großfamilie hat, die eingespannt werden könnte? Was passiert, wenn die Eltern das Geld, das sie bei der Arbeit verdienen, dringend brauchen? Die Entscheidung, das Kleinkind in andere Hände zu geben, fällt vielen nicht leicht, ist jedoch oft unumgänglich. „Manchmal geht es weniger darum, was die Eltern selber von der Kitas halten als darum, was die anderen darüber denken“, so Martha Ilmer, Leiterin der Kitas in Göflan. „Die Eltern müssen sich oft Freunden, Bekannten und Verwandten gegenüber rechtfertigen, wenn sie uns ihr Kind anvertrauen.“ Tatsächlich fühlen sich die meisten Kleinkinder in der Kitas sehr wohl. Im Idealfall bleiben sie 4-5 Stunden am Tag in der Betreuungsstätte. Dabei wird in den freundlichen, kindgerecht ausgestatteten Räumen gespielt, gegessen, gemalt und vieles mehr. In Göflan werden derzeit an die 10 Kinder betreut. Gleichzeitig anwesend sind sie aber selten, da die Tagesstätte ja flexibel in Anspruch genommen wird. Das jüngste Kind ist anderthalb Jahre alt, das älteste drei. Die meisten sind (noch) Einzelkinder und haben zu Hause selten die Möglichkeit, mit anderen Kindern zu spielen. Die Kitas wird daher für viele Kinder zum Übungsfeld: Sie lernen früh, Konflikte auszutragen, sich zu behaupten und mit anderen umzugehen – wie einst in der Großfamilie.

Bereicherung

Im Zentrum des pädagogischen Grundkonzeptes steht die Erziehung zur Selbständigkeit. Kinder, welche die Kitas besucht haben, haben beim Eintritt in den Kindergarten oft sogar Vorteile im Bereich Sozialkompetenz, auffallend sind zudem die Fortschritte im sprachlichen Bereich, die die Kinder durch die Beobachtung und Imitation der anderen machen. Außer Frage steht die Tatsache, dass der Besuch der Kitas eine große Veränderung für das Kind bedeutet. Aus diesem Grunde ist die Eingewöhnungsphase sehr wichtig. Sie dauert drei Wochen, wobei die Bezugsperson am Anfang dabei sein muss und das Kind langsam an die neuen Menschen und die fremde Umgebung gewöhnt wird. Aus diesem Grunde ist es auch nicht sinnvoll, Kinder für nur einen Monat oder für zwei Monate in die Tagesstätte zu geben –  für das Kind ist eine gewisse Regelmäßigkeit sehr wichtig. Trotz der viel gepriesenen Flexibilität der Kitas ist es allerdings nicht möglich, allen zeitlichen Bedürfnissen entgegenzukommen. Im Moment ist die Kitas in Göflan von 7.30 Uhr bis 13.30 Uhr geöffnet. Am Nachmittag kann sie erst geöffnet werden, wenn mindestens drei Erziehungsberechtigte ihre Kinder für den Nachmittag anmelden. Wer sein Kind in die Kitas geben will, besorgt in der Tagesstätte das Anfrageformular und bringt es ausgefüllt wieder zurück. Dieses wird dann von den Mitarbeitern der Kitas an die Gemeinde weiter gegeben, wo dann der Beirat darüber entscheidet, ob dem Ansuchen stattgegeben wird oder nicht. Sind noch Plätze frei, dann geht es einzig und allein darum, ob die Familie in der jeweiligen Gemeinde ansässig ist oder nicht. Im Moment ist es nur dann möglich, als Einwohner der Gemeinde Schlanders das Kind in die Kitas nach Latsch zu geben, wenn man die Kosten selber trägt. Die Gemeinde Schlanders ist unter diesen Umständen nicht bereit, zu zahlen, was sich laut Heinrich Fliri, Referent für Familie und Soziales der Gemeinde Schlanders, in Zukunft auch ändern kann, wenn dieser Wunsch vermehrt geäußert wird. Sind zu wenige Plätze frei, erstellt der Beirat eine Rangliste, wobei die Bedürftigkeit der Familie an erster Stelle steht. Wird der Anfrage stattgegeben, folgt das Erstgespräch mit den Betreuern. In Göflan sind derzeit noch fünf Plätze frei. Allem Für und Wider zum Trotz kann eine Betreuungsstätte wie die Kitas niemals die Familie des Kindes ersetzen – kann, will und soll sie nicht. Tagesstätten können Kinderzimmer nicht ersetzen, wohl aber bereichern. Diese Einrichtungen tragen der Situation vieler Menschen Rechnung, sie sind in einer kinderarmen Gesellschaft notwendig und werden auch bei uns gefordert. Damit spiegeln sie die Bedürfnisse unserer modernen Gesellschaft wider. Für viele Kinder sind sie die Gelegenheit, mit anderen Kindern zusammenzukommen und von ihnen zu lernen. Weitere Anfragen von Eltern für Kindertagesstätten gibt es auch in den Gemeinden des oberen Vinschgaus. In Mals z.B. wurde diesbezüglich eine Erhebung durchgeführt, wobei sich jedoch herausstellte, dass zu wenig Bedarf besteht, um eine Kitas auf längere Zeit auszulasten. Die Anfragen der Mütter werden daher an die Tagesmütter weitergeleitet.

Kitas und Arbeitsmarkt

Das Zuhausebleiben wird für viele Frauen nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus beruflichen Gründen problematisch: Aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden bedeutet nicht nur fehlendes Geld in der Haushaltskasse, sondern auch fehlende Rentenzeiten und schlechte Karten beim Wiedereinstieg in die Arbeitswelt. Langfristig gesehen eine Katastrophe, spätestens dann, wenn die Kinder flügge werden. Dass Kindertagesstätten die Entwicklung des Kindes negativ beeinflussen, ist nicht bewiesen. Dass es in Ländern wie Schweden, Dänemark oder Frankreich, in denen Kindertagesstätten schon viel länger zum Alltag gehören, zu keinen der prophezeiten Folgen gekommen ist, allerdings schon.

Muttermythos

„Der Muttermythos der letzten 50 Jahre beruht auf der überholten Annahme, dass allein die sichere Bindung zur Mutter die entscheidende Basis für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung des Kindes ist“, so Remo Largo, Schweizer Kinderarzt in „Der Spiegel“ Nr. 9 2008. Und Heidi Keller, Kleinkindforscherin am Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung in Osnabrück meint: „Bis heute werden Kinder in jedem Volk anders großgezogen. Und all die verschiedenen Betreuungsmodelle in der Welt generieren glückliche Menschen.“ Damit sollen nicht jene verurteilt werden, die ihr Kind nicht in die Kitas schicken. Vielmehr soll mit Vorurteilen aufgeräumt werden –  jede Familie muss für sich, ihrer Situation entsprechend, eine Lösung finden.

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