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Nationalpark Stilfserjoch im Vinschgerwind

30. November 2009 Kommentare aus

Gletscherschwund – Symptom für Klimaänderung

In unseren Breiten ist der Gletscherschwund einer der auffälligsten Anzeiger für die Erderwärmung und Klimaänderung. Der Vinschgau als ein inneralpines Trockental mit einem natürlichen Jahresniederschlag von etwa 530 mm bei Laas kommt im Kulturpflanzenanbau seit Jahrtausenden ohne Zusatzbewässerung nicht aus. Den Gletschern kommt daher besonders auch in den trockenen Alpentälern als Wasserspeicher eine grundlegende und existenzsichernde Bedeutung zu. Das Hydrografische Amt in der Südtiroler Landesverwaltung überwacht die Entwicklung einiger ausgewählter Gletscher exemplarisch, so etwa des Weißbrunnferners im hinteren Ultental. Derzeit überarbeiten die Experten in diesem Landesamt  auch das Südtiroler Gletscherkataster und  bringen es auf den aktuellen Stand.

In den ersten systematischen Aufzeichnungen für die Gletscherkataster  wurden die Gletscher meist nur ein- bzw. zweidimensional erfasst. So wurden etwa die Längen der Gletscherzungen und deren Ab- oder Zunahme über einen längeren Zeitraum erhoben. Oder es wurden die Flächenausdehnungen  der Gletscher nach deren Vermessung aufgezeichnet. In den letzten Jahren ist durch die Anwendung von geophysikalischen Untersuchungsmethoden mit der Erhebung der Schichtmächtigkeit des Eises die dritte Dimension in der Erhebung  der Gletscher dazugekommen. Dadurch wurde  die Berechnung der vorhandenen Eisvolumina möglich. Diese Untersuchungsmethoden  kommen etwa  aus der seismologischen Forschung und verwenden Radar, elektrische, elektromagnetische oder akustische Impulse. Das Prinzip ist immer dasselbe: die unterschiedlich rasche Ausbreitung des Impulses oder der Welle in den verschiedenen Materialien Eis und Felsgestein.

Die Gletscher

in der Lombardei

Auch heute möchte ich einen Blick über die Südtiroler Landesgrenze hinaus werfen und die Entwicklung der Gletscher in der Lombardei in der im Rahmen dieses Beitrages gebotenen Kürze zusammenfassen. Die Region Lombardei mit ihrer Generaldirektion „Territorium und Urbanistik“ hat in der Broschüre „I ghiacciai della Lombardia –una risorsa da conoscere“ im Jahre 2008 die Angaben zu  den Gletschern ihres Landes ajourniert und das vierte Gletscherkataster nach jenen aus den Jahren 1961, 1991, 1999 veröffentlicht. Die wissenschaftliche Koordination für diese Publikation lag in den Händen der beiden Wissenschaftler  C. Smiraglia und G. Diolaiuti, ihres Zeichens auch Hochschullehrer an  der Abteilung Erdwissenschaften der Universität Mailand.

In der Lombardei wurden im Jahre 2003  348 Gletscher und Eiskörper gezählt. Sie liegen vor allem in der Ortler-Cevedale-Gruppe, in der Bernina-Gruppe und in der Adamello-Gruppe. 170 dieser Gletscher haben eine Flächenausdehnung unter 10 ha, 49 Gletscher liegen in der Größenklasse zwischen 10 und 50 ha Ausdehnung und nur 2 Gletscher sind in der Lombardei größer als 10 km²: Der Adamello Gletscher maß 2003 16,7 km² und der Forni-Gletscher 12,0 km².

Beschleunigter Rückgang

Aus der kombinierten Interpretation der  Längen- und Flächenangaben in den vorausgehenden Gletscherkataster, aus den direkt im Freiland durchgeführten dreidimensionalen Messungen und aus der Satellitenfotografie lassen sich recht sichere Aussagen treffen über Massenbilanzen, gespeicherte  Wasserreserven und Entwicklungen der lombardischen Gletscher. Die Datenreihen zeigen einen in den letzten Jahren deutlich beschleunigten Rückgang dieser  Gletscher. Die Gesamtfläche der Gletscher in der Lombardei ist in nur einem Dutzend Jahren von 117,4 km² im Jahre 1991 um 25 km² (gleich 21 %)  auf 92,4 km² im Jahre 2003 zurückgegangen. Berücksichtigt man hingegen das Volumen, so lassen sich in der oben genannten Literatur folgende Angaben finden: Das gesamte lombardische Gletschereis hatte  im Jahre 1991 ein Volumen von 5,15 km³. Nimmt man die Dichte von Gletschereis mit 917 kg/m³ an, ergibt das einen Wasservorrat von 4,72 km³. 12 Jahre später, im Jahre 2003 ist der Eisvorrat der lombardischen Gletscher auf 4,26 km³ gesunken, was 3,91 km³ Wasservorrat entspricht. Der Wasserverlust hat sich in den vier Jahren von 1999 – 2003 besonders beschleunigt: Er betrug 0,10 km³ pro Jahr (1991 – 2003: 0,07 km³). Um diese Zahl vorstellbar zu machen, sei gesagt, dass 0,10 km³ dem Fassungsvermögen des Reschner Stausees von 100 Mio m³ Wasser entspricht. Anders ausgedrückt: Der jährliche Volumenverlust der lombardischen Gletscher durch das beschleunigte Abschmelzen infolge der Erd-erwärmung würde einen Stausee von der Größe des Reschner Sees pro Jahr füllen. Dies mag für die Konzessionsinhaber zur Stromerzeugung kurzfristig gedacht durchaus verlockend klingen. Umfassender und längerfristig gedacht, sollten wir dringend an der Langlebigkeit unserer Gletscher aus vielen anderen Gründen interessiert sein.

In Schichtmächtigkeit ausgedrückt sind die Gletscher in der Lombardei von 1999 – 2003 um 0,98 m (gerundet 1,0 m) pro Jahr geschmolzen. Dazu seien noch folgende Angaben nachgereicht: Die Eismächtigkeit am Forni-Gletscher beträgt 90 m, jene am Sforzellina-Gletscher  40 m. Um noch eine Vergleichsgröße zu haben: Die jährliche Niederschlagsmenge über der gesamten Region Lombardei wird von ARPA (Agenzia Regionale Protezione Ambiente) mit 27 km³ angegeben.  Lombardische Niederschlagsmenge und Eisvorrat, in das Verhältnis gesetzt, ergeben: Die in den Gletschern gespeicherte Eismenge entspricht nur  etwa einem Siebtel der Jahresniederschlagssumme über der gesamten Region.

Das Ortler-Eis als Klimaarchiv

Im Sommer 2009 hat ein interdisziplinäres Forscherteam mit Wissenschaftlern aus Südtirol, Trient, Innsbruck, Wien, Padua, Venedig, Pavia und von der Ohio State University in den USA die Eiskalotte des Ortlers erstmals unter die Lupe genommen. Die Gletscherforscher wollen das Inlandeis der höchsten Erhebungen in verschiedenen Bergketten der Erde untersuchen, weil das Jahrtausende alte Eis wichtige Informa-    tionen zur Klimageschichte enthalten dürfte. Bisher ist altes Eis diesbezüglich meist nur in der Arktis und Antarktis untersucht worden. Ötzi, der Mann vom Hauslabjoch war 5.300 Jahre vor heute in den Schnalser Bergen eingefroren. Wenn wir bedenken, wie viele Informationen seine Mumie und die Beifunde schon freigegeben haben, dürfen wir auch auf die Informationen aus der Eishülle gespannt sein.

Von der ersten Sondierbohrung am Ortler wissen wir, dass das Eis in 9,5 Metern Tiefe eine Temperatur von – 1,2 °C hatte und dass die Eismächtigkeit am Ortler 70 m beträgt. Im Jahre 2010 soll das Ortler-Eis systematisch gebohrt und erforscht werden. Die Forschungen müssen durchgeführt werden, solange das Eis möglichst noch in seiner gesamten Schichtmächtigkeit erhalten ist. Wenn der derzeitige Trend des Abschmelzens  von 1 m Schichtstärke pro Jahr anhält und die Verallgemeinerung aus den lombardischen Ergebnissen zulässig ist , wird der Ortler im 21. Jahrhundert eisfrei.

Nicht nur um unsere Wasserreserven aus den Gletschern für unsere verschiedensten Nutzungen zu konservieren, werden wir uns  weltweit als Menschheit  und lokal  als Bewohner der Alpentäler ernsthafter als bisher zu Maßnahmen gegen die Erderwärmung durchringen müssen.

von Wolfgang Platter (Nationalparkdirektor)

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