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Gibt es eine Zukunft für Stilfs?

3. April 2008

Vinschgerwind-Titel 7-08

Während sich in Südtirol das europaweite Phänomen der Bergflucht dank gezielter Strukturpolitik in Grenzen hält, leidet das Altdorf von Stilfs unter einem als dramatischen anzusehenden Bevölkerungsrückgang. Ein Problem, das die Gemeindepolitik lange Zeit nicht wahrgenommen hat, bahnt sich den Weg in die öffentliche Diskussion und wirft Fragen über seine Ursachen und die Zukunftsperspektiven des Bergdorfs auf.

von Martin Daniel

Sorge ist eine Stimmungslage von Roland Angerer, wenn er über sein Dorf spricht. Sorge um die Zukunft von Alt-Stilfs, die er mit vielen Mitbewohnern zu teilen scheint. Der Grund dafür: Diese Mitbewohner werden kontinuierlich weniger.

Angerer ist Volksschullehrer in Stilfs und weiß, wovon er spricht. Er kennt die langfristige Entwicklung der Schülerzahlen, noch größeren Anlass zur Sorge liefern aber die allerneuesten Daten. In der Grundschule in Stilfs werden Kinder aus Altdorf und der Wohnbauzone Patzleida sowie Trafoi, Gomagoi, Stilfserbrücke und den Berghöfen unterrichtet. Im laufenden Schuljahr besuchen 39 Kinder die fünf Klassen, für das kommende Jahr 2008/09 sind lediglich 32 eingeschrieben. Im Schuljahr 1999-2000 waren es noch 70. Das heißt, die Schülerzahl fiel in weniger als einem Jahrzehnt um mehr als die Hälfte. Diese Entwicklung spiegelt für Angerer die Geburtenzahlen wider: In den letzten zehn Jahrgängen wurden 20 Kinder weniger geboren als in jenen zuvor.

In 17 Jahren ein Viertel der Einwohner verloren

Und die unmittelbare Zukunft verspricht keine Trendwende, sondern eine Dramatisierung dieser Entwicklung. Für das nächste Schuljahr ist aus der Ortschaft Stilfs eine einzige Neueinschreibung zu verbuchen. Die Schülerzahlen lassen sich durchaus auf die Gesamtbevölkerung projizieren. Während die Einwohnerzahl der gesamten Gemeinde mit einem Rückgang von 6% seit 1990 relativ konstant bleibt, verzeichnet das Altdorf eine drastische Bevölkerungsabnahme: Im Zeitraum 1990 bis heute ist die Einwohnerzahl um 169 gesunken. Das bedeutet, dass Alt-Stilfs in 17 Jahren ein Viertel (26%!) seiner Bevölkerung verloren hat. Dabei sind sowohl Geburten- als auch Wandersaldo eindeutig negativ. Im selben Zeitraum hat die Einwohnerzahl von Sulden um 34% zugenommen.

Bergflucht ist zwar ein allgemeines Phänomen im Alpenraum und der Rückgang der Geburtenzahlen eine Begleiterscheinung der Wohlstandsgesellschaft. Aber diese beiden Tendenzen halten sich in Südtirol in Grenzen und zeichnen sich in anderen Berggemeinden wie Martell, Schnals oder Ulten weit weniger bzw. überhaupt nicht ab. Mit Sicherheit weist der Bevölkerungstrend in Stilfs ganz besondere Begleitumstände auf.

Unbewohnte Häuser und Feriendomizile

Das Altdorf meldet derzeit 474 Einwohner und 200 Privathaushalte. 13 Wohneinheiten sind im Besitz von Auswärtigen und weitere werden von Einheimischen sporadisch genutzt, also lediglich an Wochenenden oder in den Ferien. Die günstige klimatische Lage, die malerische Kulisse und die einzigartige Häuseransammlung am Hang, die entfernt an mediterrane Ensembles erinnert, inspirieren nicht nur Künstler, von denen es gar einige im Ort gibt, sondern lassen auch Stilfser, die „gegangen“ sind, ihre Häuser behalten und bieten sich manchen Fremden als Zweitwohnsitz geradezu an. 20 Wohneinheiten stehen aber auch leer – am fehlenden Wohnangebot liegt der Bevölkerungsrückgang also nicht.

Angerer empfindet das Altdorf heute als bedrückend leer, ausgestorben. Für ihn hat der Ort in 40 Jahren gewaltige Veränderungen erfahren. Damals, als er noch ein Kind war, war hier richtig Leben, viele Kinder. Heute ist Alt-Stilfs überaltert, die Bausubstanz veraltet. Eine Sanierung ist teuer. Sicher teurer als im Tal.

Dabei bewegt sich gerade in letzter Zeit wieder einiges im Dorf: Neue Aktivitäten wurden gestartet und Vereine gegründet, darunter sogar eine Webergruppe, der die Gemeinde Räumlichkeiten zur Verfügung stellt. Infrastrukturen wurden geschaffen, so eine Naherholungszone, ein Spielplatz, ein Fußballplatz, ein neuer Parkplatz. Es gibt eine gute Gastronomie, passende Busverbindungen, sogar eine Musikschule. Zudem haben die Stilfser ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl. Auch jene, die abgewandert sind, kommen zu bestimmten Anlässen immer wieder zurück.

Dies vermochte jedoch den kontinuierlichen Bevölkerungsrückgang auch in den letzten Jahren nicht aufzuhalten.

Angerer sieht den Hauptgrund für die Abwanderung im gesellschaftlichen Wandel und in einer neuen Auffassung von Lebensqualität. Bequemlichkeit, Schnelllebigkeit, gute Verdienstmöglichkeiten findet man in den Tallagen eher. Das Leben am Hang bringt Unannehmlichkeiten mit sich, die dem heutigen Konsumverhalten und den Ansprüchen nicht entsprechen. Für eine selbstständige Frau, beispielsweise, wäre ein Leben in Stilfs so gesehen nicht besonders attraktiv.

Ein Hauptthema, nämlich die Arbeitsmöglichkeiten, spricht Angerer nicht von sich aus an. Die Realteilung der Wiesen hat zu einer großen Parzellierung geführt, so dass von der Landwirtschaft allein kaum jemand leben kann. Der Bäcker und der Metzger sind in den letzten Jahren weggezogen. Es gibt drei Läden im Altdorf, die im Nebenerwerb geführt werden. Haupterwerbsmöglichkeiten gibt es außer in den drei Gastbetrieben  und in der Gemeindeverwaltung nicht. Daher pendeln viele Stilfser zur Arbeit ins Tal oder nach Sulden.

Fehlende

Arbeitsplätze

In der neuen Handwerkerzone haben sich lediglich zwei Betriebe angesiedelt, die ihre Tätigkeit auch ausüben. Warum das so ist, müsse man andere fragen, meint Angerer. Die Abgelegenheit des Dorfes spielt bei der Standortwahl sicher eine Rolle, da das Gros der Arbeiten im Tal auszuführen ist. Andererseits scheint die Ansiedlung von Betrieben kein besonderes Anliegen der Gemeindeverwaltung zu sein. Die Handwerkerzone hätte nämlich viel früher ausgewiesen werden können, wenn die Gemeinde vor 10 Jahren bei der Bereitstellung des Grundes mehr Willen gehabt hätte, sagt Ewald Pfeifer. Er war bis vor einem Monat Chef des lokalen Handwerkerverbandes, ist aber zurückgetreten, weil er sah, dass von der Politik keine Initiative kommt. „Sie legen einem aber auch nichts in den Weg“, ist Pfeifer um Ausgleich bemüht.

In den Siebzigern hat es in Stilfs einige große Maurerbetriebe gegeben, mit bis zu 25 Arbeitern. Die hätte es zu halten gegolten, aber die Gemeinde hat damals die Entwicklung versäumt, hört man zwischen den Zeilen heraus. Mit der Rückkehr einheimischer Handwerker, die vor Jahren weggezogen sind und sich in den Tallagen niedergelassen haben, ist heute nicht mehr zu rechnen. Es sieht so ganz aus, als sei die Handwerkerzone um Jahrzehnte zu spät gekommen.

Gegensätzliche Entwicklung in den Fraktionen

Eine Schweizer Forschungsanstalt hat vor drei Jahren im Rahmen eines Workshops  Risiken und Probleme für ein Leben in den Alpen erhoben und dabei einen repräsentativen Teil der Stilfser Gemeindebevölkerung befragt. Dabei kam ein weiteres Problem zur Sprache: die unterschiedliche Entwicklung in den Fraktionen. Einerseits Zunahme des Tourismus samt Arbeitsplätzen und Wertschöpfung, andererseits Abnahme des Fremdenverkehrs, begleitet von verschiedenen Vorstellungen von Tourismus und dem Umgang mit der Umwelt, den Gästen und der bestehenden Dorfkultur. Es ist die Rede von Gewinnern und Verlierern, Unstimmigkeiten, fehlender Kommunikation, und die Forderung nach einem Gleichgewicht in der Gemeindepolitik scheint als Lösungsansatz auf. Eine Arbeitsgruppe erwähnte als Risiko für das künftige Zusammenleben die „Konflikte in der Gemeinde“ und sah den Grund dafür in den „unterschiedlichen Wertvorstellungen in den Fraktionen“. Fakt ist, dass es nur Sulden und Gomagoi wirtschaftlich gut geht, während Stilfserbrücke, Trafoi und Stilfs-Dorf mit einem Niedergang der ökonomischen Aktivität zu kämpfen haben.

Die Gemeinde scheint jetzt den Ernst der Lage zu erkennen. Um dem Bevölkerungsschwund entgegenzusteuern, hat sie zumindest im urbanistischen Bereich Maßnahmen erarbeitet. In Bälde will sie Bauwilligen Anreize und Hilfen für die Sanierung und das Bauen im Altdorf bieten. So etwa für die Umwidmung von derzeit 19 leer stehenden landwirtschaftlichen Gebäuden in Wohnflächen und die Übernahme der Kosten von Durchführungsplänen und Vorprojekten.

Ob dies genügt, um der Entvölkerung Einhalt zu gebieten, bleibt abzuwarten. Aber ein Schritt ist es allemal. Und Sorge ist ja nur eine Stimmungslage von Roland Angerer. Auch Optimismus und Hoffnung auf eine Trendwende schwingen in seinen Aussagen mit.

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