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Katastrophe vor 150 Jahren

9. Juni 2005

Vinschgerwind-Titel 4-05

Am 16. Juni 2005 jährt sich der Ausbruch der drei einstigen Seen im Oberland zum 150. Mal. Die reißenden Wassermassen des Reschen-, Mitter- und Haidersees zogen Schneisen der Verwüstungen durch die Ortschaften Burgeis, Schleis und Laatsch. Um die Glurnser Stadtmauer herum staute sich wochenlang ein mit Geröll, Sand und Erde versetzter See auf. Ein Markierungsstreifen am Glurnser Tor zeigt heute noch den damaligen Wasserstand von über zwei Metern an.

Von Magdalena Dietl Sapelza

In der Nacht vom 15. auf den 16. Juni 1855 brach ein Unwetter über dem Vinschgau herein mit wolkenbruchartigem Regen. Ein Föhnwind tat das Seine dazu und ließ den meterhohen Schnee auf den Bergen schmelzen. Die Bäche aus den Seitentälern schwollen an, und Muren gingen ab. Im Oberland stieg der Pegel der drei Seen von Stunde zu Stunde an und ebenso jener der Etsch. Der Dammbruch am Mittersee löste dann die Katastrophe aus. Ungezähmte Wassermassen suchten sich neue Bahnen.

Die ersten Flutwellen aus dem Oberland erreichten die Menschen in Burgeis am frühen Samstagnachmittag des 16. Juni. Die Etsch schwoll bedrohlich an und gebärdete sich immer Furcht erregender. Die Bewohner der Häuser in Ufernähe brachten ihr Hab und Gut in höher gelegene Dorfteile. Um vier Uhr läuteten die Sturmglocken. Uferbereiche waren bereits unterspült und bröckelten ab. Männer wehrten an der Brücke im Ort. Um fünf Uhr kam der Pfarrer. Gottes Hilfe sollte Schlimmeres verhindern. Mit dem Allerheiligsten segnete er den reißenden Fluss von der Brücke herab. Kaum hatte er sie verlassen, krachte sie in sich zusammen und verschwand in den Fluten. Im nächsten Augenblick: ein dumpfes Grollen aus der Ferne. Die Reichsbrücke oberhalb des Dorfes hatte den haushoch angestiegenen Wassermassen nicht mehr standgehalten. Gesteinsbrocken donnerten vorbei. Eilig wurden auch die höher gelegenen Hauser geräumt.

Alles verloren

„Der See, der See“, schrie ein Mann und lief augenblicklich in Richtung Schleis los. Atemlos dort angekommen rief er mit letzter Kraft: „Rettet, rettet, was ihr tragen könnt. Alles ist verloren.“ Und schon war das zerstörerische Wasser da, Baumstämme, Brückenhölzer, Heuwagen, Betten und Tierkadaver mit sich führend. Den Schleisern gelang die Flucht vor dem Wasser und ebenso den Laatschern. Von den Anhöhen aus mussten die Menschen tatenlos zusehen, wie die gewaltige Flut einen Hof nach dem andern, ein Stück Land nach dem anderen mit sich riss.

35 Familien verloren in Burgeis ihre Wohn- und Wirtschaftsgebäude, 13 in Schleis und 11 in Laatsch. „Das verzweifelte Schreien der Leute, das Brüllen des Viehs, das Sturmläuten, das Krachen der einstürzenden Häuser, das Rollen der Steine und das Tosen des Wassers waren furchtbar. Auf den bergauf führenden Wegen stehen die geretteten Kästen, Betten und anderer Hausrat, dazwischen liegen Kranke, Kinder und alte Leute in strömendem Regen“, so schildert Pater Cölestin Stampfer vom Kloster Marienberg als Berichterstatter der Innsbrucker „Landes- und Schützenzeitung“ die Ereignisse.

Die Ortsteile links und rechts der Etsch waren tagelang voneinander abgeschnitten. Menschen verständigten sich durch Zettel, die sie sich in Steine gewickelt zuwarfen.

Oase im See

Den Glurnsern gelang es im letzten Moment die Stadttore zu schließen und so die ärgste Gefahr abzuwenden. Die  Wassermassen der Etsch nahmen die Stadtmauern in die Zange. Ein Hauptarm bahnte sich den Weg am Malser Tor vorbei. Die Ebene um Glurns bis zu den ersten Häusern von Schluderns verwandelte sich in einen schmutzig braunen See. Kritisch wurde es an der Ostseite der Stadt. Das Wasser unterspülte ein Mauerstück am Schludernser Tor und setzte Ställe und Keller in der Unterstadt unter Wasser. Am Malser Tor arbeiteten die Männer fieberhaft daran, die Mauern zu halten, die, vom Wasser angefressen, einzustürzen drohten. Andere errichteten Wehrbauten aus Baumstämmen an der Etsch und versuchten sie in ihr altes Bett nordwestlich der Stadt zurück zu drängen. Die Brücke am Tauferer Tor war passierbar. Reichlich Gehölz wurde herbeigeschafft. Viele Stadtbewohner verließ der Mut, als der Grundwasserspiegel immer höher stieg. Hoffnungslos sahen sie Notzeiten entgegen, denn das Wasser hatte Äcker und Felder verschlungen. Not und Elend standen auch den vielen Familien entlang der Verwüstungsschneise bevor.

Hunger und Elend

Die 100-Jahr-Gedenkfeier im Juni 1955 auf dem Glurnser Stadtplatz: v.l. Romedius von Scarpatetti, Bürgermeister Arthur Karner, Josef Peer, Gedenkredner Josef Schgör (Gemeindearzt von Schlanders und Geschichtskundler), Alois Blaas, Anton von Scarpatetti, Hans Dietl, Postmeister Lunardi und Alois Riedl. Das Bild links an der Mauer hatte der Glurnser Josef Bayer zu diesem Anlass gemalt

Dass kein Menschenleben zu beklagen war, grenzte an ein Wunder. Doch viele standen vor dem Nichts und wussten nicht, wie sie sich ernähren, geschweige denn ihre zerstörten Häuser wieder  aufbauen sollten. In Glurns war die hygienische Situation bedenklich. Angesichts der „allgemeinen schrecklichen Notlage im Bezirk Glurns“ wurde den Hochwasser Geschädigten von der „Landes- und Schützenzeitung“ angeraten, nach Ungarn auszuwandern. So weit kam es nicht. „Wohltätige Gaben“ erreichten das Katastrophengebiet aus allen Landesteilen. Spenden kamen sogar aus Boston und New York, wo der gebürtige Malser Generalvikar Pobitzer wirkte und eifrig Gelder sammelte. Es bildete sich ein Verein, der die Sammlung und die Verteilung der Spenden überwachte.  In einem weiteren Bericht  der oben genannten Zeitung hob Pobitzer den Stadtpfarrer H.J. Hutter als Seele des Vereins hervor, der für eine gerechte Aufteilung sorgte. Die Armen erhielten mehr, die Reichen weniger.

Ursache

Über die Ursache der Katastrophe schieden sich die Geister. Zwei Gründe spielten eine Rolle: Zum einen waren es die Schneeschmelze und der stark anhaltende Regen und zum anderen das Bersten der Schleuse und des Dammes am Mittersee. Diese waren kurz zuvor tiefer gesetzt worden. Seit 1853 hatten die Grauner an einem ehrgeizigen Projekt zur Entsumpfung und Landgewinnung gearbeitet. Pate stand der in Innsbruck als „Baudirektionsadjunkt“ tätige Grauner Josef Duile. Er hatte die Absenkung des Sees um eineinhalb Meter angeregt und vorangetrieben. Alles war von der österreichischen Regierung abgesegnet und unterstand der staatlichen Bauaufsicht Nauders. Die Schleuse und der Damm unterhalb der Stockerhöfe bei St. Valentin (sie fielen der Seestauung 1950 zum Opfer) wurden langsam abgetragen und weiter unten wieder errichtet. Als technisch mangelhaft wurde der Damm im Nachhinein bezeichnet. Die Bevölkerung von St. Valentin verfolgte die Arbeiten mit Unbehagen und warnte vor unberechenbaren Folgen. Sie machte sich in erster Linie Sorgen um die Bewässerung.

Menschliches Versagen

Schleuse und Damm waren am 13. Juni so gut wie fertig gestellt. Der zuständige Ingenieur war bereits abgezogen. Die Arbeiter sollten in den nächsten Tagen noch letzte Kleinigkeiten zu Ende bringen. Angesichts des Regenwetters begaben sie sich aber zum Tartscher Kirchtag, der drei Tage lang, am 14., 15., und 16. Juni, gefeiert wurde. Ein Grauner Augenzeuge, der von dieser Begebenheit erzählte, war der Meinung, dass die Anwesenheit der Arbeiter am Unglückstag einen Bruch des Dammes möglicherweise verhindert hätte. Die Zeit wäre da gewesen, um Baumstämme und Steine zur Sicherung herbei zu schaffen. Doch das Schicksal nahm seinen Lauf. Vor allem der Karlinbach ließ den Mittersee anschwellen. Die Schleuse war für die abfließenden Wassermassen zu eng und wurde überspült, ebenso der Damm, der dem Druck nicht mehr standhielt. Es war halb zwei Uhr, als sich das Wasser in den Haidersee ergoss. Der Wasserstand des Mittersees und daraufhin jener des Reschensees senkten sich. Kurz nach drei Uhr sprengte der Wasserdruck die Schleuse am Südende des Haidersees. Links und rechts des so genannten „Kortscherhauses“ donnerte eine braune Brühe tosend und alles vernichtend in Richtung Burgeis.

Schaden und Nutzen

Der See in der Ebene um Glurns floss erst nach Wochen langsam ab. Tonnenweise blieben Geröll, Sand und Erde liegen. „Was für die einen ein großer Schaden ist, kann für die anderen ein bedeutender Nutzen sein“, das schrieb  Pfarrer Karl Pali in seiner Chronik über die Lage in Schluderns. „Bis zum Jahre 1855 lieferten nur zirka die Hälfte der unter dem Dorf liegenden jetzigen Wiesen brauchbares Futter, die anderen gegen Puni und Etsch gelegenen Flächen waren so schlechte Sümpfe und Moraste, Lacken und Tümpel, dass sie nur unbrauchbare Binsen und wertloses Streu lieferten. Alles das hat die Überschwemmung der Etsch zum Guten gewendet.“ Er schreibt weiter von einer Verbesserung des ungesunden Klimas, „da die Sümpfe in Folge ihrer Ausdünstung das Fieber erzeugten, von dem beinahe Jedermann im Dorfe ergriffen wurde.“

Die Stadt Glurns lag nun in einer Senke und hatte auch künftig mit Grundwasser zu kämpfen, vor allem infolge des „Wasserwossers“. Diese Situation verbesserte sich erst in jüngster Zeit durch den Bau der Beregnungsanlagen. Die Ortschaften von Laas bis Plaus hatten ebenfalls einige Schäden zu beklagen, doch aus der Sicht der damaligen Berichterstatter zog der untere Teil des Tales, ähnlich wie Schluderns, durch die Aufschüttung der Sumpflandschaften mehr Nutzen als Schaden.

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